(Text im Booklet zur CD "Portrait Erik Reischl, Volume 5")Fünfhundertfünfundfünfzig! Dies ist die stattliche Anzahl der Sonaten für Cembalo, die uns von Domenico Scarlatti überliefert sind. Obgleich es sich stets um kurze Stücke von nur wenigen Minuten handelt, so bräuchte man doch knappe 35 Stunden, um sie alle zu spielen.
Domenico Scarlatti wurde 1685 geboren, also im selben Jahr wie Händel und J. S. Bach. Über sein Leben sind nur spärliche Informationen bekannt. Zunächst schien es, als trete Domenico die Nachfolge seines berühmten Vaters an, dem Opernkomponisten Alessandro Scarlatti, welcher ihm wohl auch von Kindesbeinen an sämtliche musikalischen Grundlagen vermittelte. So nahm Domenico Scarlatti in den Jahren 1706-1719 diverse Kapellmeisterstellen in Venedig und Rom an, und aus dieser Zeit stammen seine ersten Kompositionen, überwiegend Opern und Sakralwerke.
Einigermaßen sicher ist die Überlieferung des Zusammentreffens Scarlattis mit Händel im Jahre 1709. Es heißt, der Kardinal Ottoboni habe beide zu einem freundlichen Wettstreit im Cembalo- und Orgelspiel in seinen Palast in Rom eingeladen. Scarlatti wurde als bester Cembalist auserkoren, während Händel an der Orgel siegte.
Das Jahr 1719 stellte eine entscheidende Wende im Leben Scarlattis dar. Er verließ Italien, um in Lissabon am Hofe des portugiesischen Königs Joao V. als Kapellmeister zu dienen. Zu seinen Aufgaben zählte überdies auch die Erteilung von Cembalounterricht für dessen Tochter, Maria Barbara. Ihr folgte er nach ihrer Heirat mit dem spanischen Thronerben im Jahre 1729 nach Sevilla und vier Jahre später an den königlichen Hof in Madrid, wo er bis zu seinem Tode im Jahre 1757 blieb.
Zwar ist es sehr wahrscheinlich, daß Scarlatti bereits in seiner Zeit in Italien einige Sonaten für Cembalo komponierte, doch der überwiegende Teil ist sicherlich in Portugal und Spanien entstanden, als Übungsliteratur für seine offenbar außergewöhnlich begabte Schülerin. Die Ungewißheit über die Entstehungszeiten, ja in Einzelfällen gar der Authentizität der Sonaten entspringt der Tatsache, daß uns kein einziges Manuskript aus der Hand Scarlattis, sondern lediglich Abschriften von Berufskopisten überliefert sind.
In gedruckter Form erschien zu Lebzeiten des Komponisten nur eine Sammlung von 30 Sonaten im Jahre 1738 unter dem Titel Essercizi per Gravicembalo. Das Vorwort zu dieser Ausgabe stammt von Scarlatti selbst und liest sich höchst amüsant:
Leser, seist du nun Dilettant oder Berufsmusiker, erwarte in diesen Kompositionen keine profunde Gelehrsamkeit, sondern eher ein heiteres, sinnreiches Spiel mit der Kunst, das dich der Meisterschaft des Cembalospiels näherbringen soll. Weder die Erwägung meines eigenen Interesses noch ehrgeizige Träumereien haben mich bewogen, sie zu veröffentlichen, sondern allein der Gehorsam. Vielleicht gefallen sie dir; dann werde ich mich nur um so glücklicher schätzen, anderen Weisungen zu folgen, um dich mit einem leichteren und abwechslungsreicheren Stil zu erfreuen. Zeige dich nunmehr eher menschlich als kritisch und vermehre dadurch Dein Vergnügen. Um die Stellung der Hände zu bezeichnen, laß dir sagen, daß mit einem D die rechte, mit einem M die linke gemeint ist. Lebe wohl.
Die erste Gesamtausgabe aller Sonaten stammt aus dem Jahre 1906 von Alessandro Longo. Knapp 50 Jahre später erschien die kritische Neuausgabe des amerikanischen Cembalisten Ralph Kirkpatrick, der damit den Versuch unternahm, die Sonaten chronologisch zu sortieren, während Longo die Einzelstücke nach eigenem Gusto zu Suiten zusammenfaßte. Desweiteren verzichtete Kirkpatrick im Gegensatz zu Longo auf jegliche Zusätze dynamischer und artikulatorischer Art. Das Longo- und Kirkpatrick-Verzeichnis stellen heute die gebräuchlichsten Numerierungen der Sonaten Scarlattis dar.
Der Begriff Sonate steht im Barockzeitalter allgemein für jegliche Form von Instrumentalmusik und grenzt sich somit nur zu vokalen Gattungen ab. Die Sonaten Scarlattis als Vorläufer der klassischen Sonatenhauptsatzform zu bezeichnen, wäre aus diesem Grunde verfehlt. Bei Scarlattis Sonaten handelt es sich stets um einsätzige Werke, fast durchweg in zweiteiliger Form mit Wiederholung; sie ähneln formal also eher barocken Suitensätzen.
Im Gegensatz zur doch recht einfach gehaltenen Form offenbaren die Sonaten Scarlattis einen ungeheuren Reichtum an Klangfarben, Harmonien, Modulationen, originellen Motiven und Rhythmen. Einige dieser Harmonien und Rhythmen sind sicherlich auch auf den Einfluß der spanischen Folklore zurückzuführen. In der Sonate d-moll, K. 141, erinnern die Repetitionen der rechten Hand an den Klang einer Gitarre oder Mandoline, vor allem im Zusammenhang mit den angerissenen, scharfen Akkorden der linken Hand, in denen zudem noch sogenannte Acciacaturen, dissonante Zusatznoten, hinzukommen. Ein Beispiel für einen typisch spanischen Tanzrhythmus finden wir in der Sonate D-dur, K. 492, in der abschnittsweise eine Buleria zu hören ist.
Virtuosität spielt in den Sonaten Scarlattis eine entscheidende Rolle, was nicht verwunderlich ist vor dem Hintergrund der Konzeption als Übungsstücke. In der Sonate B-Dur, K. 441, hat die linke Hand beispielsweise Sprünge über drei Oktaven zu bewältigen, die G-dur-Sonate, K. 104, kombiniert solche Sprünge gar mit Überkreuzungen der Hände. Vor allem die Sonate in A-dur, K. 39, ist ein wahres Feuerwerk an Repetitionen und schnellen Läufen.
Wenngleich etwa vier Fünftel der Sonaten in schnellem oder sehr schnellem Tempo gehalten sind, so offenbaren gerade die ruhigen Stücke wie K. 466, K. 380 und K. 197 einen hohen Grad an Ausdrucksstärke und tiefer musikalischer Empfindung.
Vergnüglich, wenn auch zweifelhaft, ist die Vorstellung, das Thema der Fuge g-moll, K. 30, könne durch den Lauf einer Katze über die Klaviatur inspiriert sein. Entsprechend wird das Werke heute auch als Katzenfuge (fuga del gatto) bezeichnet. Und wenn diese Anekdote nicht der Wahrheit entsprechen sollte, so ist sie doch schön erfunden!